Mittwoch, 21. September 2011

Tokyo als Fahrradstadt

Kopenhagener Radfahrer haben gewählt: die 20 radfahrerfreundlichsten Metropolen der Welt. (siehe: http://www.spiegel.de/auto/aktuell/0,1518,787221,00.html)

Auf den Brüller, dass Berlin auf Platz 5 steht - meines Erachtens die einzige Stadt Deutschlands, in der eine Helmpflicht für alle herrschen sollte, da sowohl Rad- als auch Autofahrer offenkundig nicht der allgemeinen Verkehrsregeln mächtig sind - darauf will ich ausnahmsweise gar nicht eingehen.

Der viel größere Witz ist nämlich: Tokyo steht auf Platz 4. Die Auswahlkriterien werden nicht en detail erwähnt, aber es stellt sich durchaus die Frage, ob diese Flachland-Muschelschubser ernsthaft schon mal in Tokyo Rad gefahren sind. Denn zumindest im SPON-Artikel wird nirgends erwähnt ...

a) dass in Tokyo alle auf dem Bürgersteig fahren. Was zwar neuerdings laut eines (Gummi-)Paragraphen verboten ist, aber alle machen's trotzdem. Mit dem Effekt, dass man über weite Strecken vor der Frage steht: "taumeln oder schieben?"
b) dass an Tokyoter S- und U-Bahnhöfen eigentlich Fahrradmassenparken nicht erlaubt ist. Aber alles machen's trotzdem (s. a)). Die Haufen von Fahrrädern werden, netterweise meist mit Ankündigung, regelmäßig eingesammelt und abgeschleppt. Mit der Folge, dass man dann 1. sein Rad am Arsch der Welt (ja den gibt's auch in Tokyo) einsammeln darf und 2. man künftig für 1,50 Euro pro Tag sein Rad in bewachten, leider meist in 5 Minuten Fußweite vom Bahnhof gelegenen Parkplatz abstellen wird.
c) dass es selbstverständlich undenkbar ist, mit einem Fahrrad Zug zu fahren. Niemals.
d) dass "Radfahren in Tokyo" jedes Workout ersetzt, da es topografisch gesehen ungefähr "Radfahren in San Francisco" gleich kommen dürfte und
e) die Stadt zu 75% aus Gassen besteht, in die breitemäßig niemals zeitgleich ein PKW und ein Fahrrad passen. Die im übrigen in der Regel keine Einbahnstraßen sind.

Aber es gibt natürlich auch positive Seiten. Den exzellenten Service der Fachgeschäfte zum Beispiel. Kein Mensch in Japan besitzt 'ne Fahrradpumpe, geschweige denn irgendein Reperaturwerkzeug.

So gilt auch fürs Radfahren das allgemeine Tokyoter Gesetz: völlig gestört, absolut nicht auszuhalten, aber man macht's trotzdem.

Montag, 21. März 2011

波紋・Schockwellen

Ich habe lange nachgedacht, ob ich in meinem Blog ausbreiten soll, wie sehr mich die deutsche Berichterstattung aufregt. Wie wütend und beschämt es mich als Journalistin macht zu sehen, mit welcher Sensationslust und mit welchem Dilettantismus die "Kollegen" teilweise zugange sind.

Aber dann habe ich mir überlegt, doch lieber etwas Positives zu schreiben. Und das hier entdeckt. "Twitterperlen" aus und an Japan, die zwischen dem 11.03. und 21.03.2011 vielen, ganz vielen Menschen in Japan Mut zugesprochen haben. Sie haben mich zu Tränen gerührt.

"Dieser Tage denke ich öfter an etwas, das meine verstorbene Mutter einmal gesagt hat: 'Wenn Menschen sich um etwas streiten, reicht es nicht - doch wenn sie miteinander teilen, bleibt stets etwas übrig.' Ich bin stolz auf all die Menschen, die von der Katastrophe getroffen wurden, und auch auf Japan. Wir schaffen das!"
@yoshi0miyu

"In dem schwer getroffenen Ishinomaki war ein Drehteam unterwegs, um über die Katastrophe zu berichten. Da schrie ein junges Mädchen nach ihnen - sie dachten, sie rief nach Hilfe, und näherten sich ihr. 'Für Sie ist es doch auch sehr anstrengend - bitte, wir haben Kaffee für Sie', sagte sie, und so luden die Flüchtlinge die Journalisten ein. Dabei hatten sie doch selbst genug Sorgen ... Japaner sind echt unglaublich."
@command_s

"Kürzlich habe ich eine Unterhaltung zweier Omis in der S-Bahn mitgehört: 'Die Polizei sagt, wir sollen das Licht ausmachen um Strom zu sparen' - 'Wir sind es doch gewohnt, das Licht für das Land auszumachen. Diesmal regnet es ja auch keine Bomben, da machen wir es liebend gern aus.' Für einen Moment wird es ganz still um sie herum. Mir kamen die Tränen."
@tabletalkcafe

"Als ich die Notfalltasche überprüft habe, fand ich darin einen Zettel, auf dem mein Vater vor 40 Jahren eine Botschaft hinterlassen hatte: "Trage stets die Sonne im Herzen und ein Lied auf den Lippen." Auch ich werde unsere neue Notfalltasche mit einer Botschaft versehen. Damit eines Tages irgendjemand von neuem Mut fassen kann."
@ritz29

"Mein Mann arbeitet bei der Nationalgarde. In Sorge um ihn, der sicher nicht viel geschlafen hat, schrieb ich ihm eine SMS: 'Geht es dir gut? Übernimm dich nicht!' Daraufhin antwortete er: 'Unterschätze die Nationalgarde nicht! Wenn nicht jetzt wann soll ich mich bitte dann übernehmen?! Pass auf was du sagst!' Diese Jungs sind wirklich tough - körperlich und seelisch."
@yoshimicov

"Ein Israeli hat mich auf Hebräisch angesprochen. Leider habe ich nichts verstanden, doch dann kam zufällig ein palästinensischer Freund von mir vorbei und hat übersetzt: 'Kommt Japan wieder in Ordnung? Ich werde von tiefstem Herzen beten!' Der Israeli und der Palästinenser gaben sich die Hand, und uns erfüllte ein Lächeln. Mir kamen die Tränen."
@malines_chico

"Ein Kind stand in der Supermarktschlange, mit Naschzeug in der Hand. Kurz bevor es an der Reihe war, schien es auf die Kasse zu blicken und ins Grübeln zu kommen. Schließlich warf es sein Geld in die Spendenbox neben der Kasse, packte die Süßigkeit zurück ins Regal und verließ den Laden. Die Stimme der Kassiererin, die dem Kind ein 'Dankeschön!' hinterher rief, bebte."
@matsugen

"Mein zweijähriger Sohn hatte sich selbständig die Schuhe angezogen und wollte gerade zur Tür raus, da rief er mir zu: 'Ich gehe jetzt das Erdbeben verhaften!' Dieser Mut und dieses Gefühl für Gerechtigkeit, die in dem kleinen Körper stecken, geben mir Kraft. Lass uns alle gemeinsam stark sein und alles geben."
@hirata_hironobu

"Es ist so unglaublich dunkel, dass die Sterne so schön strahlen wie noch nie. Hey, ihr alle in Sendai, ihr müsst nach oben schauen!"
(vor Ort mitgehört:)@ryoji96

"Als ich völlig erschöpft nachts nach dem Beben auf einem Tokyoter Bahnsteig zusammenkauerte, kam einer der Obdachlosen zu mir und gab mir einen Pappkarton, da es zu kalt sei um auf dem Boden zu sitzen. Und wir, wir blicken diese Leute sonst nicht einmal an. Danach wurde es mir warm."
@aquarius_rabbit

"Dies schrieb mir ein Freund aus Korea: 'Japan ist das einzige Land der Welt, das je von einer Atombombe getroffen wurde. Ihr habt auch den Krieg verloren. Jedes Jahr suchen euch Taifune heim. Und Erdbeben. Und Tsunamis … Ihr seid ein kleines Inselreich, und doch seid ihr immer wieder aufgestanden, denn so ist Japan - oder? Ihr müsst alles geben - voll krass alles!' Übrigens … ich weine gerade."
@copedy

"Ich sah, wie ein paar Kinder sich bei einem Bahnhofsvorsteher mit den Worten bedankten: 'Danke, dass du gestern alles getan hast, damit die Züge wieder fahren!' Der Bahnhofsvorsteher weinte. Und ich heulte Rotz und Wasser."
@oka_0829

Quelle: http://prayforjapan.jp/message/

Donnerstag, 24. Februar 2011

Lieber Karl Theodor,

ab heute heißt Du also nicht mehr Herr Doktor. Dumm gelaufen, aber gib's zu: Du hast es selbst verkackt. Ich war zwar vorher schon kein Fan von Dir, wenn auch Deine Bundeswehrreform mir recht solide und durchdacht erscheint. Was Deine Person betrifft, sofern ich das via Massenmedien beurteilen kann: Was mir an dem "Hochhalten alter Werte" nicht gefällt ist vermutlich das Wort "alt". Doch mit welcher Glitschigkeit Du Dich diesmal aus der Nummer windest, ist einfach nur noch wiederlich.

Klar. Kein Mensch liefert eine Fehlerfreie Dissertation ab. Und ich unterstelle Dir nicht einmal, dass hinter Deinem "Copy & Paste"-Prinzip böse Absicht steckt oder Du vielleicht aus Zeitmangel einen Gostwriter engagiert hast. Das Blöde ist nur: Du bekleidest ein öffentliches Amt. Wenn Du Sachbearbeiter bei BMW, ja selbst wenn Du TV-Moderator oder sonst irgendeine Rampenlichtsau wärst, wäre das alles nicht so schlimm. Aber Du bist Verteidigungsminister. Du hast ein Mandat. Und Mandat bedeutet Vertrauen, und zwar von uns, dem Volk, das Du "verteidigen" sollst. Dieses Volk hast Du stattdessen verarscht.

Mal ganz abgesehen davon, dass es von hochgradiger Dummheit zeugt Zitate nicht zu markieren, in einer juristischen Doktorarbeit, in der man über 85 Prozent der Strecke nichts anderes tut als Literatur zu zitieren. Das wäre wie wenn ich als Biologe eine auf Feldversuchen basierende Dissertation schreiben würde, aber zu faul für die Versuche wäre und mir Zahlen nach dem Lottoprinzip suchen würde. Nur, dass bei mir die Zeitersparnis ca. zwei Jahre betragen würde, bei Dir hingegen - keine Ahnung, sag Du's mir - zweieinhalb Wochen? Du tischst uns die Standardausrede eines jeden Normalbürgers auf, wofür Dich ein Großteil dieses offenkundig verblödeten Volkes auch noch liebt: Ich war im Stress. Familienvater, politische "Leidenschaft", dann noch "intellektuelle Herausforderung", das war dann wohl doch nicht zu schaffen. Mir und v.a. all den alleinerziehenden bzw. de facto fast-alleierziehenden Akademikerinnen kommen die Tränen. "Domm g'lofa", tät der Schwab sagen.

Wie großzügig und vorbildlich also von Dir, dass Du einsiehst, dass Du Dich wohl überschätzt hast. Und auf den Doktortitel verzichtest - erst vorübergehend, nachdem sich das Fußvolk übers Wochenende dummerweise nicht beruhigt hat dann doch endgültig. Komischerweise werde ich das Gefühl nicht los, dass Dein Doktortitel nur ein Bauernopfer ist, mit freundlicher Genehmigung von Frau Dr. Merkel und der Uni Beyreuth. Nach dem Motto: Gebe Titel ab, behalte dafür Amt.

So geht das aber nicht. Du glaubst, Du stehst für Rechtschaffenheit und "alte Werte" wie Verantwortungsbewusstsein. So stehst Du aber nur für Unehrlichkeit und "alte Werte" wie elitäres Denken und Gutsherrenart. Nicht, dass mich das irgendwie persönlich überraschen würde. Aber damit bringst Du die Wissenschaftsbranche in Misskredit und machst ungeniertes Lügen in der Politik (noch) hoffähig(er). Und wie Du vergangene Woche mit den Journalisten umgesprungen bist, mit Deiner - hoppla, blöder Zufall - Erklärung vor ein paar handverlesenen Reportern zeitglich zur Regierungs-PK, das hatte fast schon was von einem Despoten. Vielleicht sollte Dir jemand nochmal das Grundgesetz vorlesen, Artikel 1 bis 20 reichen schon.

Kurzum, Du begehst jetzt denselben Fehler, den Du schon während Deiner Fake-Diss gemacht hast. Du überschätzt Dich. Aber wie wir alle wissen - ja, auch das Fußvolk, man kann's nämlich googlen, kommt Hochmut vor dem Fall. Nur dass diesmal die Fallhöhe ungleich tiefer sein wird.

Einen guten Flug wünscht
Rosa K.

Dienstag, 22. Februar 2011

Berlinale 2011: Bilanz

Insgesamt habe ich in 10 Tagen (2 Tage Pause dank spontaner Kotzeritis) 18 Filme gesehen. Vielfach war zu lesen, dass es einer der schwächsten Berlinalejahrgänge gewesen sei, dass v.a. der Wettbewerb zur Hälfte nur aus Lückenbüßern bestand usw. Mir fehlt ja der Vergleich, doch ich muss sagen: Ich fand fast alle Filme gut bis herausragend.

Das liegt sicherlich auch daran, dass ich wenig experimentierfreudig bin und ich mich relativ gezielt an das diesjährige Thema "zwischenmenschliche Beziehungen" gehalten habe. Das Ergebnis war, dass ich z.B. am Dienstag in vier Filmen war, in denen allesamt die Männer bzw. Väter ganz schlecht wegkamen (Nader & Simin, Amnistia, Mabul, Toast). Aber es ist toll, dass man bei solch einem Festival Filme aus Ländern sieht, aus denen man weder einen Film kennt noch sonst eine Vorstellung von hat, die über Klischees und Nachrichtenbilder hinaus geht. Ich weiß jetzt, dass es in Ankara im Winter wirklich kalt ist, Armenien so aussieht wie Anatolien, persische Autokennzeichen etwas von Hieroglyphen irgendwelcher Sphingen haben und Israel nicht nur aus Tel Aviv, Klagemauer und Grenzposten besteht. Und wer hätte gedacht, dass ich gleich zwei Filme sehe, die in Albanien spielen?

Damit ich jaaa keinen Film vergesse, hier mein Hit-Ranking:
1. Jodaeiye Nader az Simin (zu Recht Gewinner des Goldenen Bären)
2. Romeos
3. The Forgiveness of Blood
4. Mabul
5. Ausente
6. Stadt Land Fluss
7. The Guard
8. Wer wenn nicht wir
9. Amnistia
10. Toast
11. Bizim büyük caresizligimiz
12. Griff the Invisible
13. Here

sehr schwach:
14. Utopians
15. Late Bloomers

Sonderpreis:
Dreileben - Drei Filme à 90 Minuten von Christian Petzold, Dominik Graf und Christoph Hochhäusler um einen flüchtigen Frauenmörder, wobei mir der Film von Graf am besten gefallen hat (kein Wunder, bin ich doch seit "Im Angesicht des Verbrechens" ein großer Fan Grafs). Insgesamt fand ich das Projekt sehr gelungen, wobei man ihnen den Faktor TV bisweilen angemerkt hat: Die Filme werden nach derzeitiger Planung im September 2011 in der ARD ausgestrahlt.

Berlinale 2011-6: The Forgiveness of Blood

The Forgiveness of Blood, von Joshua Marston. USA-ALB 2010 (Wettbewerb)

Ein Dorf irgendwo in Albanien, wie es wohl hunderte von gibt. Eine sechsköpfige Familie wie tausend andere. Der Vater liefert mit Pferd Klinsmann und einem Karren der Marke "Eigenbau" Brot im und um das Dorf herum aus, die Mutter arbeitet in der Stadt und kümmert sich mit der 15-jährigen Tochter Rudina um den Haushalt und die zwei kleinen Kinder Dren und Boga - klar, ist ja Frauensache. Hauptfigur ist jedoch der Älteste, der 17-jährige Nik. Er ist hauptsächlich mit seinen pubertären Sorgen beschäftigt, also Aussehen, seine erste große Liebe sowie seinen Zukunftsplänen: Wenn er mit der Schule fertig ist, will er im Dorf ein Internetcafé eröffnen.

Doch bevor es dazu kommt, wird Nik aus seiner Welt herausgerissen. Zusammen mit seinem Vater Mark tötet sein Onkel im Streit den Statthalter eines Clans, mit dem die Familie schon länger im Clinch um einen versperrten Feldweg liegt. Während Mark untertaucht, darf Nik das Haus fortan nicht mehr verlassen. Der "Kanun", die jahrhundertealte Tradition, gibt der Familie des Ermordeten sonst das Recht ihn und alle anderen männlichen Nachkommen zu töten. Rudina, die eigentlich von einem Studium an einer Universität geträumt hatte, muss nun das Brot ausfahren. Anfangs noch widerwillig, akzeptiert sie bald ihre neue Rolle und mutiert zu einer wahren Geschäftsfrau. Nik hingegen ist wütend und frustriert, was auch den Rest der Familie zunehmend fertig macht. In seiner Verzweiflung schleicht er sich eines Nachts sogar aus dem Haus, um seine Angebetete zu treffen. Was ihn und seine Familie jedoch in noch größere Gefahr bringt, denn die wachsamen Augen des Feindes sind überall.

Joshua Marston erzählt diese Tragödie in ruhigen, fast schon zu schönen Bildern. Er verzichtet fast komplett auf Musik und auf überzeichnete Dramen. Stattdessen wechseln Landschaftsaufnahmen sommerlicher Dorfidylle mit alltäglichen Handlungen wie Pferdfüttern, zuhause Playstationspielen und dem Plausch am Gartenzaun ab, nur dass eben zwischendurch hart geschossen wird. Auf diese Weise gelingt es ihm, diesen aus mitteleuropäischer Sicht völligen Wahnsinn als etwas ganz Normales darzustellen. Marstons erster großer Trick besteht schon darin, den Auslöser, nämlich den Mord, gar nicht zu zeigen. Dadurch wird unbewusst das Unverständnis über die absurde Strafe noch größer.

Diese Art von Blutrache geschieht bis heute quasi täglich in Albanien, nur dass die Todesdrohungen inzwischen auch per SMS ankommen. Schön auch, dass Marston die Geschichte konsequent anhand der beiden Figuren Nik und Rudina erzählt, die eigentlichen Täter also völlig außen vor lässt, zugleich die beiden jedoch nicht in eine Opferrolle drängt. Beide sind wütend auf das Schicksal, das ihnen einen Strich durch ihre Pläne macht. Doch beide - die eine früher, der andere später - akzeptieren es schließlich. Und handeln, im Gegensatz zu der Elterngeneration, jeder auf seine Weise mutig.

sehr sehenswert
(Silberner Bär für Joshua Marstons Drehbuch)

Freitag, 18. Februar 2011

Berlinale 2011-5: Romeos

Romeos (Romeos) von Sabine Bernardi, DEU 2010 (Panorama)

Lukas, gerade 20 geworden, ist endlich in der Großstadt Köln angekommen, um seine Zivistelle in einem Pflegeheim anzutreten. Allerdings wurde er im Schwesternwohnheim einquartiert. Was nach einem Versehen klingt, hat einen Grund - und ist für Lukas eine Katastrophe. Denn Lukas war bis vor kurzem Miri. Auf keinen Fall soll jemand dahinterkommen, lediglich seine beste Jugendfreundin Ine weiß bescheid. Am allerwenigsten Fabio, der ultramännliche Traumtyp aus der gemeinsamen Partyclique, in den sich Lukas sofort verliebt.

Fortan gibt er sich also noch mehr Mühe, möglichst männlich rüberzukommen. Wie besessen trainiert Lukas mit den Hanteln, notiert pennibelst den Umfang diverser Körperteile und bewundert stundenlang und stolz seine sprießenden Bartstoppeln - Details, die die Kamera wunderbar immer wieder einfängt. Er wird immer körperbesessener und ist glücklich, dass er bei seiner neuen Clique so gut ankommt. Nur Ine distanziert sich mehr und mehr von ihm und wünscht sich sogar "die alte Miri" wieder zurück. Sie weiß, dass auf lange Sicht niemand glücklich wird, der sich immer verstellen muss. Und so kommt es, wie es kommen muss: Ausgerechnet Fabio findet Lukas' Geheimnis heraus - und kann absolut nicht damit umgehen.

Regisseurin Sabine Bernardi, die auch das Drehbuch geschrieben hat, ist ein äußerst sensibler Film gelungen. Geschickt verwebt sie in die Liebesgeschichte die schonungslose und sicherlich gut recherchierte Wahrheit über den Istzustand eines "FTM" (Female-To-Male"). Wenn Lukas sich bei brütender Hitze ungelogen fünf T-Shirt-Schichten übereinander anzieht, um seine Brust zu kaschieren, oder sich per Webcam an die Transmann-Netcommunity wendet und sich live die 25. Testosteronspritze verpasst, ist zu erahnen, welcher Wille und Chuzpe hinter einem solchen Unterfangen stecken.

Ein großes Lob gilt dem Casting, denn Rick Okon ist als ganzer Kerl, der in einem halbgaren Körper gefangen ist, hundertprozentig überzeugend. Seine Gesichtszüge, seine Körperhaltung, überhaupt seine gesamte Ausstrahlung lässt in ihm immer wieder die Frau aufblitzen, die er irgendwann einmal war. Obwohl seine Welt für 99 Prozent der Zuschauer völlig fernab jeglicher Vorstellung liegt, leidet man in jeder Sekunde mit. Vermutlich, weil wir alle einen Großteil unserer Jugend mit dem Versuch verbringen, unseren Körper zu akzeptieren. Auch Maximilian Befort bildet als arroganter und doch sensibler Italomacho einen perfekten Gegenpol. Kurzum: Drehbuch, Schauspieler, Kamera, Schnitt - und Musik!! - hier passt alles zusammen.

herausragend

Berlinale 2011-4: Stadt Land Fluss

Stadt Land Fluss (Harvest) von Benjamin Cantu, DEU 2010 (Generation 14+)

Der 19-jährige Marko arbeitet als Azubi in einem großen Agrarbetrieb Jänickendorf, 60 Kilometer südlich von Berlin und steht kurz vor seinem Abschluss zum Landwirt. Was allerdings danach kommen soll, weiß er nicht. Er macht seine Arbeit gut, doch der echte Wille und Enthusiasmus fehlen ihm. Was auch seiner Ausbildungsleiterin Frau Butsche aufgefallen ist, die seinen Zustand der spätpubertären Ziellosigkeit mit "Wollen kommt nicht von Wolle" trocken kommentiert. Immer noch hadert Marko mit seiner Vergangenheit: aufgewachsen ohne Vater, bei einer alkoholkranken Mutter vor der er schließlich mit 15 weggelaufen ist.

Eines Tages taucht Jakob auf dem Hof auf, der scheinbar in einer ähnlichen Phase der Planlosigkeit steckt wie Marko. Er hat seine Banklehre abgebrochen und will mit dem Praktikum herausfinden, ob die Landwirtschaft etwas für ihn ist. Schnell findet er Anschluss bei den anderen Lehrlingen und auch seinen Vorgesetzten, allen voran die resolute Landwirtin Frau Thymian nimmt ihn unter ihre Fittiche. Nur Marko bleibt anfangs auch ihm gegenüber verschlossen, bis sich die beiden sich irgendwo zwischen Mähdrescher, Melkmaschine und Möhrenvereinzelungsanlage näherkommen. Bei einem Spontanausflug nach Berlin verlieben sie sich endgültig ineinander. Doch keiner der beiden weiß wohin, wenn überhaupt, diese Reise zu zweit gehen soll - sie wissen ja nicht einmal, wohin sie selbst wollen.

"Ich habe Leute bei der Feldarbeit gesehen und mir gesagt, ich will einen Film über Erde drehen", erzählte Cantu im Anschluss an die Vorführung. Das Spannende an diesem Projekt: Von den beiden Hauptdarstellern abgesehen wirken ausschließlich Leihendarsteller mit. Mama Butsche, Trekkerfahrerin Thymian und all die anderen kernigen Figuren arbeiten tatsächlich in Jänickendorf. Auch die landwirtschaftlichen Szenen sind größtenteils improvisiert, was dem Ganzen streckenweise einen dokumentarischen Charakter verleiht. Sicherlich gehen die manchmal etwas blassen Hauptfiguren bei all den schrulligen brandenburger Schnauzen fast etwas unter. Doch das schadet dem Film kaum und ist vielleicht sogar vom Regisseur so gewollt - und vor allem bisweilen zum Brüllen komisch. Denn, wie Eingangs erwähnt, ist die eigentliche Hauptfigur das Gefühl "ich fühl mich so leer, ich fühl mich Brandenburg" das Cantu geradezu respektvoll in wunderschöne Bilder fasst. So sehr, dass man direkt nach dem Kino in den Regionalexpress nach Cottbus einsteigen möchte (na ja, jedenfalls im Sommer).

sehenswert